Cluburlaub, Türkei, 2025

Vom Urlaub mit unserem drei Monate alten Baby muss ich Ihnen jetzt aber doch auch noch erzählen. Ich war ja von vornherein dagegen. Mit einem so kleinen Kind fliegen. Heiß ist es in der Türkei auch und medizinische Versorgung weiß man ja auch nicht wirklich. Also ich habe es für keine gute Idee gehalten, aber weil die ganzen Verwandten und Verschwägerten aus aller Herren Länder auch gekommen sind, haben wir uns eben angeschlossen. Die wollen ja auch alle das Baby sehen.

Jetzt sitze ich also da, schon kurz vor zwölf habe ich mich an einer symbolischen Absperrung vorbei zu den Futtertrögen des Mittagsbuffets vorbei geschummelt, um schon einmal zu sondieren, was ich denn da heute wollen könnte. Man kann entweder gleich beim Buffetbereich essen, wo immer zu stark runtergekühlt wird, oder draußen, wo es viel zu heiß ist. Kurz nach zwölf ist es mittlerweile, und ich sitze an einem großen Tisch, den ich für die ganze Sippe reserviert halte. Außer mir ist noch keiner da, aber auf WhatsApp laufen die Koordinierungsgespräche auf Hochtouren. Kinder müssen abgetrocknet und angezogen werden, und selbst das erst, wenn man sie vorher nicht erst finden oder disziplinieren muss.

Meine Sondierung des Mittagsbuffets hat ergeben, dass es im Prinzip dasselbe gibt, wie gestern: Frittiert wird alles, außer Schweinefleisch. Dann gibt es Pasta, Pide, Pommes; gegrilltes Fleisch, gegrillten Fisch, gegrilltes Gemüse. Salat und Charcuterie teilen sich eine Nische. Nur statt dem Tika Massala gibt es Paprikahuhn, statt der Lasagne Moussaka und auf dem verwaisten “Diet” Tischchen, schaut heute der gekochte Brokkoli so traurig aus der Backform, wie gestern die Kohlsprossen. Man darf sich streiten, ob man da schon von Abwechslung sprechen kann.

Neben mir hat sich mittlerweile eine Kolonne gebildet, die vom Strand Richtung Essen pilgert. Wie Ameisen, nur alle mit Sonnenbrand und Handy in der Hand.

Oleg, Herzpatient aus Swerdlowsk Oblast, watschelt mit langsamem Schritt, schwerem Atem und leerem Blick zum erstbesten Tisch, um seine Bauchtasche abzulegen. Seine Frau Svetlana und seine Tochter Anja, beide Herzpatienten in spe, watscheln ihm nach.

Mit hochrotem Schädel folgt ihnen Keith aus Manchester. Er hat gestern ein bisschen zu viel Bier getrunken, obwohl er währenddessen immer wieder beteuert hat, dass ihm dieses Efes gar nicht schmeckt. “Tastes loike piss, innit?” Er würde am liebsten entweder kotzen oder weitertrinken, traut sich aber beides unter den mürrischen Augen seiner von Kopf bis Fuß tätowierten Frau nicht. Ihr kleiner Rotschopf Nathan jammert präventiv nach einer “oice cream”. Die Mutter fragt ihn, ob er dumm ist, oder warum er sonst ohne Kappe in der prallen Sonne spazieren gehe. Widerwillig lässt er sich die Manchester United Schirmkappe auf den Kopf setzen. Papa Keith hat nicht begriffen, dass er mitgemeint war.

Auf ihrem Weg zum Buffet müssen sie achtzig Kilos aus Mecklenburg-Vorpommern ausweichen. Die elfjährige Jacqueline hat sich einen Teller emotionslos, aber mit bewundernswertem Zug zum Ziel beladen. Darauf die gesamte kulinarische Bandbreite der Farbe Beige: Nudeln, Nuggets, Pommes, Schnitzel und Brot. Zielstrebig trägt sie das Erbeutete an den Tisch, den sie ohne besonderen Grund anvisiert hat.

Der neunjährige Sören aus Bremen hat hingegen keine Gewichtsprobleme, eher im Gegenteil. Er hat ohne von seinem Handy aufzuschauen, an dem Tisch Platz genommen, an den ihn seine Großeltern mit kurzen “Links, Rechts” Kommandos gelotst haben. Er hat sich bei seinem Opa, der für alle Essen holen gegangen ist, nur eine Cola bestellt. Das Glas hat er dann dafür verwendet, um sein Handy dagegen zu lehnen. Oma bemüht sich ihm zuerst eine Gurke schmackhaft zu machen und nachdem er am Ende immer noch nichts gegessen hat, versucht sie ihm in aller Verzweiflung zumindest ein Baklava von der Seite in den Mund zu schieben. Chancenlos. Der Bildschirm hat ihn gefangen. Sein Opa nimmt es resigniert zur Kenntnis und starrt selbst stumm auf sein Handydisplay. Ihn hat es aber nicht daran gehindert, einen ambitionierten Teller Börek zu vernichten.

Eine internationale Ansammlung moderner Menschen, die man da beobachten kann. Interkulturell. Wobei die Kulturen sich da eigentlich sehr ähneln. ‘Divers’ würde man heutzutage sagen. Da sticht es einem dann richtig ins Ohr, wenn man einmal die vertraute Zunge der Heimat hört.

“Donn hot er mir erst recht wieder Paradeiser in Börger tan, der Voitrottel!” Mario, Starstürmer der U14 des FC Inzersdorf, macht hinter mir seinem Unmut Luft.

“Na hostas erm gsogt?” hallt es vom Tisch zurück.

“Versteht jo nix, der Tirk.”

Murat, der seit fünfundzwanzig Jahren im türkischen Tourismus arbeitet und sich durch ‘Gute Zeiten, Schlechte Zeiten’ und ‘Lindenstraße’ fließende Deutschkenntnis angeeignet hat, hätte ihn sehr wohl verstanden, wenn er seine Sonderwünsche so vorgetragen hätte wie Jacqueline, aber Hochdeutsch war seiner Meinung nach fia Worme und so hat er Paradeiser auf jeden seiner Börger bekommen.

Ich beobachte das ganze Schauspiel vor einem vollen Teller Kroketten, die ich liebe, und frittiertem Hendl, das gleich daneben gestanden hat. Das war sozusagen Teil der Sondierung. Meine guten Vorsätze sind an diesem sechsten Tag des Urlaubs schon bis zur Unkenntlichkeit erodiert. Die bunten Salat- und Gemüseteller des ersten Wochenendes haben sich schrittweise zu gehäuften Tellern voller einmaliger Ausnahmen verwandelt. Ein einsamer Brokkoli und ein an den Rand des Tellers verbanntes Löffelchen Gurkensalat müssen ganz alleine mein moralisches Überlegenheitsgefühl stützen: keiner macht sich hier irgendwelche Gedanken über Klimawandel, Plastikmüll in den Ozeanen, die diversen geopolitischen Krisen. Keiner schert sich um gesunde Ernährung oder die globalen Konsequenzen ihres ungezügelten Konsums. Für den Heimflug muss ich mir noch Netflix-Serien auf mein Handy laden. Das Baklava probier’ ich schon noch.

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