Das Café am Rande der Welt
Entweder habe ich irgendeine versteckte, subtile Botschaft nicht verstanden, oder diese Erzählung ist tatsächlich nicht wesentlich tiefgehender als ein durchschnittlicher Mittelschulaufsatz.
Ein Mann in seinen Dreißigern ist frustriert und bekommt den Ratschlag, den man immer wieder als „Follow Your Passion“ proklamiert hört. In einem mystischen Café wird er von einer Kellnerin, dem Inhaber und Koch in Personalunion und einem anderen Gast darüber belehrt, dass er nur herausfinden müsse, was ihn wirklich erfüllt in diesem Leben, ebendies dann zu seinem Beruf machen und damit seien alle Probleme gelöst.
Nicht nur, dass dieser Ratschlag nicht den geringsten Anspruch von Originalität erheben kann, er ist auch nicht besonders gut. Er überträgt dem Beruf die gesamte Verantwortung für ein erfülltes Leben, was unweigerlich zu enttäuschten Erwartungen führt. Die Aussicht, dass jeder banale Job zum Lebensinhalt werden muss, lässt mich schaudern. Ein Beruf kann und ist in den allermeisten Fällen „nur“ ein Vehikel, um das Leben leben zu können, dass man gerne leben möchte. Man muss keine Leidenschaft für das Steuerrecht haben, um wertschätzen zu können, dass die Entlohnung eines Steuerberaters die große Wohnung in der Stadt, das Ferienhaus und das Auslandsstudium der Kinder bezahlt. Man muss nicht den Müll anderer Leute zum Inhalt seines Lebens machen, um wertschätzen zu können, dass man als Müllmann um vierzehn Uhr mit der Arbeit fertig ist und viel Zeit mit der Familie verbringen kann.
Sobald man sich von den herzerwärmenden Wunschvorstellungen der einen, wahren Profession, die alle Probleme lösen wird, befreit, und in die Realität zurückkehrt, wird man feststellen, dass der Anwalt, der in seiner Freizeit mit seiner Death Metal Band durch die dazugehörigen Szenefestivals tourt, ein wesentlich häufigerer Anblick ist, als der Musiker, der so gut verdient wie ein Anwalt, weil er seiner Leidenschaft folgt.
Das Erwachsenenmärchen vom „in sich hineinhören“ und der Hoffnung auf darauffolgende Epiphanie ignoriert auch die Tatsache, dass man die Dinge, die man noch nicht gemacht hat, nicht ausreichend kennt, um sie beurteilen zu können. Schon im achtzehnten Jahrhundert stellte der Philosoph Giambattista Vico fest: „Verum ipsum factum“ – „Wir kennen nur, was wir (selbst) machen.“
Der „Follow Your Passion“-Ratschlag ist bestenfalls eine Binsenweisheit, das ändert sich auch nicht, wenn man ihn mit einer kleinen Erzählung umrahmt.