I wondered if the motto for our era should be: I tried to live, but I got distracted.
Stolen Focus
, 2022
Gestern habe ich unzählige Stunden am Handy verbracht. Nicht, weil ich musste, weil ich etwas zu tun hatte, wofür ich es gebraucht hätte. Nein, ich habe komplett sinn- und bedeutungslose Videos über den Cybertruck, Ubisoft und Blizzard geschaut. Den Cybertruck gibt es in Europa nicht einmal zu kaufen (weil er keine Chance hat, den Sicherheitsregulierungen auch nur annähernd zu entsprechen) und ich spiele schon lange keine Videospiele mehr. Ja, Ubisoft böse, Blizzard böse, Diablo IV ein Reinfall, Overwatch 2 eine Katastrophe. Wen interessiert’s?
Mich eigentlich nicht, aber das hat mich nicht daran gehindert, wie ein hirntoter Sack Fleisch herumzuliegen und mein Hirn mit diesem Schwachsinn zu bombardieren. So wird mir mein Fokus gestohlen. Mir und uns allen.
Johann Hari behandelt die Frage allerdings weniger unter der Verwendung der Prämisse, die digitalen Ablenkungen seien die Übeltäter der Epidemie der Unaufmerksamen, sondern wirft ein breiteres Netz aus, lässt mehrere Erklärungen zu. Unsicheres Umfeld, schlechte Ernährung, schlechte Luft, das alles trägt zu unserem Achtsamkeitsverlust bei, wobei mich düngt, dass sich die meisten dieser äußeren Umstände nicht auf uns im Herzen eines friedlichen und sicheren Europas beziehen. Gerade hier in Wien ist die Luft besser als in vielen anderen Millionenstädten; auch fliegen unseren Kindern nicht die Kugeln um den Kopf, wie in Chicago oder an der US-Westküste, genauso wenig, wie unsere Ärzte jedem dritten Kind Ritalin verschreiben.
Der gemeinsame Nenner bleibt die Landschaft an absichtlich abhängig machenden Anwendungen, die im Sekundentakt um unsere vermarktbare Aufmerksamkeit buhlen. Davon haben wir hier im idyllischen Mitteleuropa auch genug.
[Nir Eyal] writes: 'Let's admit it: we are all in the persuasion business. Innovators build products meant to persuade people to do what we want them to do. We call these people users and even if we don't say it aloud, we secretly wish every one of them would become fiendishly hooked to whatever we're making.'
Der Autor versucht sich im Gegensatz zu anderen Büchern mit ähnlicher Materie abzugrenzen, indem er den Sprung von persönlichen Ratschlägen hin zu gesellschaftspolitischen Anklagen macht. Er fordert uns auf, politisch aktiv zu werden und Druck auf Regulatoren auszuüben. Während ich dankbar über jeden bin, der dieser Aufforderung nachkommt, ist das Aufrollen politischer Kampagnen keines meiner Talente, Stärken oder gar Interessen, weswegen ich wohl weiter den Weg persönlichen, individualistischen Widerstands bevorzugen werde.
Kafka: Um sein Leben schreiben
, 2024
Wer in der Schule war, der hat Kafka gelesen, oder er hätte ihn zumindest lesen sollen. In meinem Fall war das Mittel der Wahl meiner Deutschlehrerin “Die Verwandlung”. Vermutlich eine gute Wahl, weil die Erzählung über einen jungen Mann, der sich in seinem Zimmer zu dem verzweifelten Gezeter seiner Familie in einen riesigen Käfer verwandelt, die Essenz dessen gut zu symbolisieren vermag, was wir heute als “kafkaesk” bezeichnen.
Der deutschsprachige Jude aus Prag, mit dem fein zerrissenen Inneren, starb am 3. Juni 1924, weswegen die Literaturwelt das gegenwärtige Jahr zum Kafkajahr erkoren hat. Die Lektüre habe ich also nicht zufällig gewählt. Es war für mich eine zweite Chance, die ich in meiner Großzügigkeit dem Autor geschenkt habe, den ich zu meinen Schultagen als komplett überbewertet und unverhältnismäßig tiefgehend interpretiert abgetan habe.
Fast zwei Jahrzehnte später hat sich meine Meinung - Gott sei Dank - geändert. Auch durch genau ebendiese Erläuterungen aus gegenständlichem Buch ist mir klar geworden, dass mein ursprünglicher Instinkt, Kafkas Schreiben als psychotischen Fiebertraum ohne Intention einer tieferen Bedeutung zu sehen, falsch war. Übereifrige und prätentiöse Literaturwissenschafter haben nicht Bedeutung gefunden, wo keine versteckt war; Kafka selbst war ein übereifriger und prätentiöser Autor. Rüdiger Safranski setzt die entstandenen Texte übersichtlich und leicht verständlich in die Kontexte von Kafkas Lebensabschnitten. Briefe von Kafka, Briefe an Kafka. Tagebucheintragungen seines Freundes Max Brod und seiner gescholtenen ersten Verlobten, Felice Bauer.
Das macht für jemanden wie mich klar, dass Kafka das kafkaeske forciert hat. Es ist ein Spiegel in seine Seele, seine innere Zerrissenheit. Spät, aber doch ist das nun auch mir klar geworden. Wovon ich allerdings nicht abrücke - zumindest nicht bis jetzt - ist die Auffassung, dass speziell seine innere Zerrissenheit nicht von besonderer Bedeutung sein muss, als die aller anderen, nur weil er sie aufgeschrieben hat. Der Weltschmerz, den er fühlt, ist allen Menschen gemein, nur dass die meisten sich nicht über ihn definieren, wie er das so inbrünstig getan hat.
Kafka braucht meinen Segen nicht, um hundert Jahre nach seinem Ableben der deutschsprachige Literat des zwanzigsten Jahrhunderts schlechthin sein zu können. Das ist auch gut so, denn auch wenn ich sein Werk Dank Rüdiger Safranskis Erklärungen jetzt besser verstehe, bin ich immer noch kein Fan.
Wie das Wetter Geschichte macht
, 2018
Die Schlacht von Salamis, in der sich die Griechen, dem Ratschlag des Orakels von Delphi folgend, hinter hölzernen Mauern Schutz suchen sollten, ist mir aus diesem Buch am stärksten in Erinnerung geblieben. Der Heimvorteil der Griechen äußerte sich vor allem in dem Wissen um die Windgewohnheiten des Saronischen Golfs verhalf den Athenern und Spartanern zu dem Sieg über die feindliche Streitmacht, die ihnen zahlenmäßig um ein Vielfaches überlegen war. Einer von vielen Umständen freilich, aber kein unwesentlicher.
Auch der “evangelische Wind” ist mir in Erinnerung geblieben, der die spanische Armada in der Nordsee in höchste Bedrängnis brachte, sodass die britische Marine gar nicht mehr viel dazutun musste, um der nautischen Vormachtstellung der Spanier ein jähes Ende zu setzen.
So behandelt dieses Buch eine breite Auswahl an historischen Ereignissen, die auf die eine oder andere Weise den Lauf der Geschichte beeinflusst haben. Man merkt, dass Ronald Gerste bemüht ist, die Auswahl der Ereignisse breit zu fächern, wobei ich nicht mit dem gesamten Katalog zufrieden bin: Dass Helmut Schmidt indirekt durch eine Flut, die Hamburg heimsuchte, ins öffentliche Bewusstsein und weiterführend ins Bundeskanzleramt gespült wurde, ist für mich nicht wirklich so interessant. Dafür fehlt beispielsweise die erste Türkenbelagerung Wiens, die bekanntlich durch einen ungewöhnlichen Wintersturm im Oktober beendet wurde, nachdem dem osmanischen Heer schon in den Monaten zuvor durch Sturm und Regen heftig zugesetzt wurde.
Das Thema gibt aber vermutlich noch viel mehr her. Vielleicht sogar genug für einen zweiten Teil.