Stolen Focus
Gestern habe ich unzählige Stunden am Handy verbracht. Nicht, weil ich musste, weil ich etwas zu tun hatte, wofür ich es gebraucht hätte. Nein, ich habe komplett sinn- und bedeutungslose Videos über den Cybertruck, Ubisoft und Blizzard geschaut. Den Cybertruck gibt es in Europa nicht einmal zu kaufen (weil er keine Chance hat, den Sicherheitsregulierungen auch nur annähernd zu entsprechen) und ich spiele schon lange keine Videospiele mehr. Ja, Ubisoft böse, Blizzard böse, Diablo IV ein Reinfall, Overwatch 2 eine Katastrophe. Wen interessiert’s?
Mich eigentlich nicht, aber das hat mich nicht daran gehindert, wie ein hirntoter Sack Fleisch herumzuliegen und mein Hirn mit diesem Schwachsinn zu bombardieren. So wird mir mein Fokus gestohlen. Mir und uns allen.
Johann Hari behandelt die Frage allerdings weniger unter der Verwendung der Prämisse, die digitalen Ablenkungen seien die Übeltäter der Epidemie der Unaufmerksamen, sondern wirft ein breiteres Netz aus, lässt mehrere Erklärungen zu. Unsicheres Umfeld, schlechte Ernährung, schlechte Luft, das alles trägt zu unserem Achtsamkeitsverlust bei, wobei mich düngt, dass sich die meisten dieser äußeren Umstände nicht auf uns im Herzen eines friedlichen und sicheren Europas beziehen. Gerade hier in Wien ist die Luft besser als in vielen anderen Millionenstädten; auch fliegen unseren Kindern nicht die Kugeln um den Kopf, wie in Chicago oder an der US-Westküste, genauso wenig, wie unsere Ärzte jedem dritten Kind Ritalin verschreiben.
Der gemeinsame Nenner bleibt die Landschaft an absichtlich abhängig machenden Anwendungen, die im Sekundentakt um unsere vermarktbare Aufmerksamkeit buhlen. Davon haben wir hier im idyllischen Mitteleuropa auch genug.
[Nir Eyal] writes: ‘Let’s admit it: we are all in the persuasion business. Innovators build products meant to persuade people to do what we want them to do. We call these people users and even if we don’t say it aloud, we secretly wish every one of them would become fiendishly hooked to whatever we’re making.’
Der Autor versucht sich im Gegensatz zu anderen Büchern mit ähnlicher Materie abzugrenzen, indem er den Sprung von persönlichen Ratschlägen hin zu gesellschaftspolitischen Anklagen macht. Er fordert uns auf, politisch aktiv zu werden und Druck auf Regulatoren auszuüben. Während ich dankbar über jeden bin, der dieser Aufforderung nachkommt, ist das Aufrollen politischer Kampagnen keines meiner Talente, Stärken oder gar Interessen, weswegen ich wohl weiter den Weg persönlichen, individualistischen Widerstands bevorzugen werde.